Der
Tagesspiegel
vom 7. Januar 2000
Netz-Projekt am Potsdamer Platz
900 Quadratmeter große Riesen-Website wird auf das Sony-Gebäude
projiziert
Markus Ehrenberg
Das Sony-Gebäude auf dem Potsdamer Platz. Passanten recken die Hälse.
Autofahrer halten an, starren auf eine riesige, bunte Fläche, 900
Quadratmeter groß, 7000fach größer als auf dem PC-Bildschirm.
Auf der Fläche erscheint alle 30 Sekunden eine neue Website, zufällig
aus dem World Wide
Web ausgewählt. So oder so ähnlich wird es in ein Paar Wochen
aussehen, wenn ein Internet-Kunstprojekt nach Berlin kommt, das zur Zeit
in München für Aufsehen sorgt.
Dass das Internet etwas Großes ist, hat dort der Künstler Markus
Heinsdorff beim Wort genommen. Seit Silvester projiziert er mit dem Internet-spezialisten
Thomas Aigner einen überdimensionalen, interaktiven Internet-Bildschirm
auf das Hypogebäude am Mittleren Ring. Vorbeifahrende Autos hupen,
ständig bleiben Menschen vor dem 125 Meter hohen Haus mit seiner
2100-Quadratmeter-Fassade stehen. Auf einer 30 mal 30 Meter großen
Fläche schaut der Passant Surfern aus aller Welt über die Schulter.
Ein Zufallsgenerator wählt alle 30 Sekunden eine Webseite aus, die
in diesem Moment von irgendeinem Internet-User auf der Welt angesurft
wird.
Mit ihrem Aufwand könnten sich Aigner & Heinsdorff mit dem Guinness-Buch
in Verbindung setzen: Die Riesen-Websites auf dem öffentlichen Gebäude
kommen aus einem Rechner, der in einer 160 Meter entfernten Wohnung steht.
Ein Spektakel für die Nacht. Dafür braucht es zwei gleichgeschaltete
Video-projektoren der neuesten Generation, die je 10 000 Lumen Lichtstärke
haben und auf dem Balkon stehen. Weiter eine Starkstromleitung mit 7200
Watt und eine Sondergenehmigung der Stadt wegen der Unfallgefahr auf dem
Mittleren Ring (100 000 Autos fahren täglich an der Hypobank vorbei).
Gesamtkosten: 150 000 Mark.
Werbung hin, Größenwahn her, die Mauer-Webseite stellt den
bisherigen Umgang mit dem Internet auf den Kopf. Bisher gab es Live-Cams,
Netz-Städte, Einkäufe, virtuelle Lebewesen - die reale Welt
wurde immer mehr ins Internet übertragen. Mit der Münchner Projektion
wird Privates nach Außen getragen, die reale Welt verleibt sich
die virtuelle ein. Das Medium Internet reflektiert sich selbst, so der
hehre Anspruch der Macher. Das Netz als Großprojekt im öffentlichen
Raum - warum ist das Christoph Schlingensief noch nicht eingefallen? Oder
Christo?
Markus Heinsdorff sieht seine Aktion politisch. Normalerweise geht jeder
Surfer davon aus, dass geheim bleibt, was er zuhause auf seinem PC tut.
Das stimmt nicht ganz. Die öffentlichen Seiten kommen aus dem Squid,
einem Verbund, in dem sich weltweit Provider zusammen geschlossen haben,
um dort die Millionen von Websites aus dem Netz zwischen zu speichern.
Der Münchner Künstler kennt die Schwächen dieses Squids,
weiß, dass er mit seinem Projekt eine Gesetzeslücke aufdeckt:
"Wir steigen mit unserem Zufallsgenerator in Internet-Leitungen ein. Wir
zapfen Leitungen an. Die Namen der nur scheinbar anonymen User auf dem
öffentlichen Gebäude anzuzeigen, wäre denkbar. Die Medienbranche
hat doch nur darauf gewartet, dass mal einer so etwas macht.
Spannend sei, so Heinsdorff, dass die projizierten Seiten im gleichen
Moment irgendwo auf der Welt aufgerufen würden. So hinterlassen die
"anonymen Protagonisten des Web-Prangers" erstmals ihre Spuren sichtbar
im öffentlichen Raum. Mit einer eigenen Homepage ist Markus Heinsdorff
bereits im Netz der Netze vertreten. Damit gibt sich der 45-Jährige
allerdings nicht zufrieden. "Ich muss", sagt er, "als Künstler Einfluss
nehmen auf dieses Medium." "Internet-Kunst" sollte dabei aber nicht herauskommen.
Vielmehr will der gelernte Steinmetz und Goldschmied das Medium Internet
"wie ein Stück Ton" in seine Arbeit einbeziehen.
Hat das alles überhaupt mit Kunst zu tun? Heinsdorff hat eine simple
Antwort parat: "Ja, weil ich es zur Kunstform erkläre." Falls sich
die Gesellschaft tatsächlich im Internet spiegele, müsse dies
auch auf der Hausfassade deutlich werden, fügt er hinzu. Gleichzeitig
wird die Projektion selbst wieder mit einer Webcam ins Netz übertragen,
der "Spiegel des Spiegels sozusagen". Das unsichtbare Netz nehme plötzlich
Gestalt an.
Demnächst auch in Berlin. Mit Sony laufen Verhandlungen über
eine Nutzung des Gebäudes am Potsdamer Platz. Anfang Mai soll die
Website auf die Mauer, das Projekt noch spektakulärer werden. Mit
Spielen, Datenhandschuhen und brisantem Inhalt. Zweierlei Websites waren
bislang Tabu: rechtsextreme Propaganda sowieso und Erotikfotos, "alles
was, den guten Geschmack verletzen würde", sagt Thomas Aigner. Das
gilt nicht ganz für Berlin.
Möglicherweise sollte sich Polizei-präsident Hagen Saberschinsky
den Mai-Termin rot in seinem Kalender anstreichen. Da drohen Verkehrsprobleme.
Die überdimensionale Website am Potsdamer Platz soll interaktiver
und erotischer werden, weil dort kaum Autos führen, so die beiden
Münchner. Das kommt ganz auf die Perpektive an.
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